Eine Kurzgeschichte im Shadowrun-Universum von Peter Groth. Alle Rechte bleiben beim Urheber.
Ein Arzt wird Streetdoc
Wohnungstür
“Guten Abend. Ich bin Doktor Müller. Ich habe den Eindruck, dass Sie und ganz besonders Ihr … Chummer ärztlicher Hilfe bedürfen.”
Ungerührt sah Doktor Müller in die Gesichter der Runner vor ihm. Dass die Mündungen zweier schwerer Pistolen, er kannte sich da nicht so aus, auf ihn zeigten, schien ihn nicht zu bekümmern. Dass die schweren Pistolen zu nervösen und teils blutbespritzten Orks gehörten, auch nicht.
Kurz schaute ein Ork zum anderen und senkte die Waffe. Beide sahen sich zum Verwechseln ähnlich.
“Komm rein, Mann. Unser Chummer ist angeschossen worden. Er blutet wie Sau.”
Zehn Minuten vorher. Über der Arztpraxis
Ein lautes hartes Quietschen von Bremsen ließ Doktor Müller aufhorchen. Er legte sein Buch beiseite und wischte mit einer Geste die klassische Musik aus, die er gern beim Lesen im Hintergrund laufen ließ, nahm die entspannt hochgelegten Füße vom Hocker und schaute aus dem Fenster. Um diese späte oder eher frühe Uhrzeit war es normalerweise still in der Straße vor seiner Praxis, über der er wohnte.
Durch den Vorhang konnte er sehen, wie zwei dunkle robuste Gestalten, vermutlich Orks, einen dritten Mann eilig aus einem Kofferraum eines Kombis zerrten. Der Mann stöhnte laut und eine dunkle Flüssigkeit verteilte sich auf dem Boden und zog eine im fahlen Licht der Straßenlaterne eine dünne glitzernde Spur aus Tropfen.
“Mach schnell, Chummer. Forrest blutet wie Sau. Das muss dicht!” knurrte einer der Orks.
Die Fahrerin, zumindest vermutete Doktor Müller eine Frau anhand der Statur, fuhr eilig los als der Verletzte aus dem Kofferraum heraus war.
Wenige Augenblicke später konnte er sehen, wie in der Wohnung im Hochparterre das Licht anging und Schatten sich in der Küche eilig bewegten.
Aufseufzend rang er kurz mit sich und ging dann in seine Praxis runter, um seine Arzttasche zu packen. Heute war sein freier Tag und der fing nicht gut an.
Wohnung
In der Küche konnte Doktor Müller sehen, dass der blutende Mann, er kannte ihn bisher nur vom Sehen, auf dem langen Küchentisch lag. Er blutete aus einer Beinwunde. Auf dem Tisch und dem Boden hatte sich schon eine Lache gebildet.
Rasch zog er sich Handschuhe über.
“Sie beide! Hände mit Seife waschen, desinfizieren und dann die Handschuhe anziehen! Sie, Forrest, richtig? Hören Sie auf zu zappeln! Ich werde Ihre Hose aufschneiden und dann die Blutung stillen.”
Unsicher schauten sich die beiden Orks an. Händewaschen stand nicht ganz oben auf ihrer Dringlichkeitsliste.
“Muss ich Ihnen beibringen, wie man die Hände wäscht? Oder wollen Sie Ihrem Kollegen auch noch eine Blutvergiftung mitgeben? Ich brauche Ihre Hilfe und keine dreckigen Hände!”
Doktor Müller schnitt rasch und geübt die Hose weit oberhalb der Wunde ab und legte dann ein Druckverband an. Sofort blutete es weniger.
“DREK! Mann! Das tut so weh!” jammerte der Mann auf dem Tisch.
“Ruhe! Liegen Sie still! Seien Sie froh, dass Sie den Schmerz noch spüren!”
“Sie!” er zeigte auf einen der athletischen Orks. “Ich brauche aus meiner Tasche eine Schere, Pinzette und den Druckverband.”
Verwirrt und fast niedlich hilflos suchte der stämmige Ork vorsichtig mit seinen Pranken in der Arzttasche. Erleichtert reichte er dem Arzt das Gesuchte.
“Sie beide! Halten Sie den Mann fest! Er zappelt zu viel.”
Nun war es fast still. Fast. Forrest stöhnte oft und laut gequält auf. Hin und wieder ließ sich Doktor Müller was reichen.
Die Tür klapperte. “So, Chummer, das Blut ist raus aus der Karre und wie geht es Forrest? … Was zur Hölle?”
Die Fahrerin war in die Wohnung gekommen und griff instinktiv zur Waffe hielt sich dann wieder zurück, als sie die Situation erfasste.
“Sie sind der Doc von gegenüber.”
“Japp.”
“Können Sie ihm helfen?”
“Japp.”
“Wird er überleben?”
“Wahrscheinlich, ja.”
“Was kann ich tun?”
“Die Klappe halten.”
“So ka.”
Nach weiteren anstrengenden und langen Minuten richtete sich der Arzt aufatmend auf, streckte sich und schnitt einen Faden ab.
“So, die Ader ist geschlossen, die Wunde ist zu und sauber. Die nächsten Tage braucht der Mann absolute Ruhe und keine Bewegung, so ka?”
“So ka.” nickten alle gehorsam.
“Er darf sich nicht bewegen. Ich sehe täglich nach ihm. Wenn sich sein Zustand verschlechtert, kommen Sie unauffällig in meine Praxis. Unauffällig!”
“Doc, soll Forrest jetzt auf dem Küchentisch liegen bleiben?”
“Natürlich nicht. Bringen Sie ihn in ein Bett oder auf eine Couch. Beides muss sauber sein.”
Bei dem Wort sauber zuckten alle zusammen und die Frau sagte:
“Drek! Ich kümmere mich darum.”
“Unter sein Bein sollten Sie Handtücher legen. Es wird noch eine Weile bluten. Bis der Blutverlust ausgeglichen ist, wird es dauern.”
Die Handschuhe ausziehend und auf den Tisch werfend schaute sich Doktor Müller um, packte seine Sachen ein und verschwand mit einem “Gute Nacht”.
So wurde aus Doktor Müller am Tage ein Streetdoc bei Nacht. Über Tag arbeitete er in seiner gut laufenden Praxis, die am frühen Abend schloss. Nachts wurde er nun immer mal aus dem Schlaf geklingelt und am Tage zu “eiligen Hausbesuchen” gebeten. Bald wandelte er ein einfaches und nicht genutztes Zimmer in ein Operationszimmer um. Bei einer nächtlichen schwierigen Notoperation kam seine junge Arzthelferin dazu, sagte nur “Ich habe schon lange die Vermutung, dass hier noch was läuft. Und wie ich sehe, brauchen Sie Hilfe, Herr Doktor. Und einem Nebenverdienst bin ich nicht abgeneigt.”
So war auch sie im Team.
Beide weigerten sich, als Rückendeckung mit auf Runs zu kommen.
Doktor Müller sagte schlicht: “Bringt eure Verletzten her oder lasst es! In die Nähe eurer Einsätze gehen meine Assistentin und ich nicht!”
Marktfriede
“Was willst du, Müller?”
Roswitha sah den Arzt vor ihr grimmig an. Sie hatte wichtigeres zu tun, als sich mit einem heimlichen Streetdoc abzugeben.
“Marktfriede für meine Praxis!”
Bei dem mittelalterlich anmutenden Wort runzelte die Anführerin der lokalen Gang die Stirn.
“Ist was passiert?”
“Ja, verdammt. Gestern habe ich einen von Diegos Leuten zusammengeflickt und zwei deiner Leute machten Stress. Kommt das nochmal vor, dann flicke ich niemanden mehr zusammen! Auch deine Leute nicht! Mach das auch den anderen Gangs klar! Du hast den Kontakt zu denen. Nutze ihn!”
Einer von Roswithas Leibwächtern bekam ob der harschen Worte gegenüber seiner Chefin Schnappatmung und erwartete den Befehl, den Doc windelweich zu prügeln. Ihr Berater, wie er sich nannte, beeilte sich die Wogen zu glätten.
“Nun, Doktor Müller hat bereits einige Male unsere Leute bestens medizinisch versorgt um nicht zusammengeflickt zu sagen. Ich bin sicher, zu deren Zufriedenheit. Es ist in unser aller Interesse, dass wir in Zukunft weiter seine Dienstleistungen in Anspruch nehmen können. So ist ein Marktfriede, wie Sie es so schön formulieren, Doktor, sicher in unser aller Sinne, Roswitha.”
Doktor Müller nickte dem Mann im grauen Anzug kurz zu.
“Marktfriede für meine Leute, für mich und meine Praxis. Ich habe keine Lust, dass meine Mitarbeitenden von irgendwelchen Gangern unter Druck gesetzt werden. Erfahre ich sowas, ist die Gang raus. So ka?”
Nur das Tuten eines Schiffes war zu hören.
Der Leibwächter hatte sich nur wenig entspannt und wie zufällig die Hand in der Jacke.
“So ka.” nickte Roswitha dann und winkte ihrem unverbindlich lächelnden Berater zu. “Kümmere dich drum.”
Dieser nickte kurz und verließ den Raum.
Doktor Müller murmelte ein Danke und ging.
Von nun an wurden er und seine Leute nicht mal mehr von Squattern angesprochen, ja kaum angeschaut. Kam es doch mal vor, wenn Auswärtige sich in das Viertel verirrten und Stunk suchten, dann bereuten sie es schnell und kamen nicht wieder.
Ende
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